Als Kinder der Diaspora wachsen wir oftmals in Ländern auf, in denen andere Gesellschaftsformen herrschen als jene, die unseren Eltern oder Großeltern bekannt waren. Besonders für diejenigen von uns mit direkter oder indirekter Fluchterfahrung kann es schwierig sein, eine ausgewogene Balance zu finden. Denn wenn die Familie eine lebensbedrohliche Flucht überlebt hat, sind meist die selbstgesteckten Ziele ziemlich hoch angesetzt. Die Angst vor dem Scheitern in einer Leistungsgesellschaft führt zu Selbstzweifeln, welche sich wiederum negativ auf die Selbstwirksamkeit auswirken. Der Druck wird durch eine weiße Mehrheitsgesellschaft verstärkt, die Betroffenen stets mitteilt, dass sie dankbar sein sollten, in einem Land aufwachsen zu dürfen, in dem politische Stabilität herrsche und das persönliche Glück eine zentrale Rolle spiele. Letzteres beschäftigt viele von uns. Kann ich mein Streben nach Selbstverwirklichung über das Wohlergehen meiner Community stellen oder lassen sich die beiden Ziele doch miteinander vereinbaren?
Der Grund, warum sich viele Menschen mit Migrationsgeschichte mit dieser Frage beschäftigen, ist der kulturelle Hintergrund, welcher oftmals in einer kollektivistischen Gesellschaftsform verankert ist. In kollektivistischen Kulturen steht das Allgemeinwohl der Gesamtgesellschaft im Fokus. Anders als in individualistischen Gesellschaften rücken die individuellen Glücksansprüche in den Hintergrund. Der einzelne Mensch ist Teil eines sozialen Systems, welches Pflichten mit sich bringt, aber parallel auch als Sicherheitsnetz für seine Mitglieder fungiert. In der Regel spielen Respekt vor Älteren, Selbstlosigkeit und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen eine große Rolle. Obwohl das Allgemeinwohl im Fokus steht, existieren dennoch individualistische Werte innerhalb einer kollektivistischen Gesellschaft. Theoretisch sollte es also möglich sein, sich selbst zu verwirklichen und dabei ebenfalls das Wohlergehen der eigenen Community zu priorisieren. In der gefühlten Realität scheint es allerdings so, als lassen sich die beiden Ziele nicht miteinander vereinbaren.
Es ist nahezu unvermeidlich in Europa aufzuwachsen, ohne eine eurozentrische Perspektive auf die Welt zu entwickeln. Eine eurozentrische Perspektive wird allerdings erst kritisch, wenn sie als die einzig wahre Perspektive anerkannt wird. Diejenigen, die Diskriminierung und Ausgrenzung erleben, konnten relativ früh, die zentrale Rolle von Gruppenzugehörigkeit im alltäglichen Leben erkennen. Soziale Anerkennung und das Gefühl von Zugehörigkeit sind maßgeblich für die Aufrechterhaltung des eigenen positiven Selbstbildes. Ungeachtet dessen herrscht in kollektivistischen Kulturen das Verständnis, dass unsere Communities uns auffangen, wenn wir fallen. Wir kommen aus Kulturen, in denen gepredigt wird, dass wir gemeinsam stärker sind als alleine. Kulturen, in denen Schwächere nicht zurückgelassen werden. Daher sind Menschen, die in der Diaspora leben oftmals bereit, ihre Familien in der Heimat finanziell zu unterstützen, auch wenn sie ihnen nicht sonderlich nahestehen. Das heißt, mit dem Zugehörigkeitsgefühl gehen auch Verpflichtungen gegenüber der Community einher. Doch wie lassen sich kollektivistische Werte und Normen in einer individualistischen Gesellschaft vereinbaren? Eine allgemeingültige Antwort auf diese Frage lässt sich schwer definieren. Das Leben in der Diaspora zeigt jedoch, dass weder die selbstlose Aufopferung noch die absolute individuelle Freiheit die perfekte Lösung ist.
Selbstliebe und Achtsamkeit nach nicht-westlichem Standard
Obwohl wir durchaus wissen, wie wichtig es ist, auf das eigene Wohl zu achten, kommen viele von uns dennoch an ihre Grenzen. Gnädig mit sich selbst zu sein und achtsam mit dem eigenen Körper und Geist umzugehen, sind eine Teildefinition von Selbstliebe. Für Menschen mit Fluchtgeschichte sieht der Weg zur Selbstliebe und zum achtsamen Leben allerdings etwas anders aus, als wir ihn aus den sozialen Medien kennen. Statt einem schönen Bad mit Kerzen, einer ausgiebigen Hautpflegeroutine und der Zubereitung gesunder Smoothies, spielt das Streben nach Selbstermächtigung für die eigene Community eine zentrale Rolle. Wie kann ich mir meine Träume erfüllen und parallel Menschen, die mir kulturell ähnlich sind, weitere Türen öffnen? Das westliche Verständnis von Selbstliebe ist demgemäß nicht universell. Für viele von uns bedeutet Selbstliebe auch, an diejenigen zu denken, die Unterstützung brauchen – wenngleich die eigenen Ressourcen begrenzt sind.
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